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Was Nachbarschaft heute bedeutet

Foto: Melina Mörsdorf
Foto: Melina Mörsdorf
Ausgabe 3 / 2022 Ausgabe als PDF speichern

SAGA-Mieterin Regina Buck liebt ihre Nachbarn. Ist das normal? Zum 100-jährigen Jubiläum der SAGA haben wir uns gefragt, was „Nachbarschaft“ heute bedeutet – und haben uns ein wenig umgehört.

Nachbarn sind ein bisschen wie Familie. Durch das Schicksal vereint, obwohl sie oft nicht viel mehr gemeinsam haben als die gleiche Adresse. Manchmal werden sie trotzdem zu Freunden – und manchmal ärgern sie sich gegenseitig. Und obwohl jede und jeder selbst Nachbar ist und sich somit auskennt, gibt es keine einfache Definition von „Nachbarschaft“.

Die SAGA macht Menschen seit 100 Jahren zu Nachbarn. 270.000 Personen leben in SAGA-Wohnungen, und wahrscheinlich haben allein sie hunderttausend Ideen dazu, was Nachbarschaft bedeutet. Wie weit sie sich ausdehnt zum Beispiel, bis zum nächsten Stockwerk oder bis zur nächsten Straßenecke? Und was „gute“ Nachbarschaft sein soll, dazu gibt es auch viele verschiedene Meinungen. Zum Jubiläum der SAGA wollen wir dieser komplizierten Sache auf den Grund gehen. Wir fragen eine Wissenschaftlerin, was Quartiere für ein friedliches Zusammenleben brauchen. Hören, was Menschen in Deutschland sich von Nachbarn wünschen, und besuchen eine SAGA-Mieterin, die eine ganz besondere Nachbarschaft pflegt.

Diese Mieterin heißt Regina Buck, Spitzname Gina. Die 67-Jährige kennt alle Leute aus ihrem und dem angrenzenden Haus beim Namen, trifft sie zum Kaffee, gärtnert mit ihnen. Mit ihrer Freundin Waltraud von nebenan fährt sie einmal die Woche einkaufen. Im Treppenhaus hängt ein Foto von Gina, Waltraud und Nachbarin Gitta, aufgenommen auf der Hochzeit von Gittas Sohn. „In den Sechzigerjahren haben wir hier rauschende Feste gefeiert. Mit 30, 40 Mann sind wir in einer Polonaise vom Keller bis zum Dachboden getanzt“, erzählt Gina.

Alle drei Frauen wohnen im selben Haus, in einem SAGA-Quartier in Lurup. Die Ligusterhecken sind gestutzt, dicke Bäume werfen ihre Schatten auf die Gehwege. Die Wohnblöcke, lange Riegel mit zwei Stockwerken, sind eingerahmt von Rasenflächen und Spielstraßen, in den Vorgärten stehen Spielgeräte. Gina zog 1955 als Vierjährige in die Gegend, ging als junge Erwachsene weg und kam 1996 zurück, um ihre Eltern zu pflegen. Mit Gitta und ihrem Mann Emil, mit Gabi aus dem 2. Stock und Waltraud verbindet sie mehr als Nachbarschaft. Sie leihen sich Werkzeug, bringen den Müll der anderen hinaus, passen aufeinander auf: „Wenn mir draußen etwas merkwürdig vorkommt, sehe ich nach dem Rechten“, sagt Gina. Die Freundinnen haben ein Notfall-Zeichen an den Heizungsrohren verabredet: Dreimal Klopfen heißt „Ich brauche Hilfe“. Eingeengt fühle sie sich trotz der Nähe nie, sagt Gabi: „Wenn ich meine Ruhe haben will, mache ich einfach die Tür zu – und gut ist.“

Apropos Ruhe: Wenn es in Nachbarschaften Ärger gibt, ist meist Lärm die Ursache. In einer Umfrage des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2021 gaben 34 Prozent der befragten Städter in Deutschland an, dass sie sich über laute Geräusche ärgern. Etwa 25 Prozent beschwerten sich über unfreundliche Umgangsformen. Und damit nähern wir uns der Definition von „guter Nachbarschaft“: Dort nehmen die Leute Rücksicht aufeinander. „Dafür müssen sie keine Freunde sein“, sagt Talja Blokland. Die Soziologin hat sich unter anderem auf Stadtforschung und Nachbarschaftswandel spezialisiert. Sie sagt: Wer zufällig nebeneinander wohnt, muss auch nicht zwingend eine Beziehung entwickeln. Die Vorteile von guten Beziehungen seien zwar sehr groß. „Aber man ist nicht automatisch ein schlechter Nachbar, wenn man mit den Menschen in seinem Haus nichts zu tun hat.“

Trotzdem sei es sehr sinnvoll, wenn Quartiersentwickler und Vermieter sich dafür einsetzen, dass Nachbarn sich kennenlernen, sagt Blokland. Denn: In einer vertrauten Umgebung fühlen Menschen sich sicherer. „Vertraute Öffentlichkeit“ nennt die Wissenschaftlerin das. „Die erreicht man dann, wenn man ungefähr weiß, wer alles um einen herum lebt. Egal, ob es der ältere Herr ist, der immer an der gleichen Ecke sitzt, oder Frau Meier, die immer mit ihrem Hund spazieren geht“, sagt Blokland. Außerdem lassen sich Konflikte viel einfacher lösen, wenn Leute miteinander bekannt sind. Der Wille ist da in Deutschland: Umfragen von Statista haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen gerne mit den Nachbarn plaudert oder ihnen einen Gefallen tut. Auf dem Land und in der Stadt sagten rund 60 Prozent, dass sie gerne einen besseren Kontakt zu den Nachbarn hätten.

Die SAGA möchte ihren 270.000 Mieterinnen und Mietern nicht nur bezahlbaren Wohnraum, sondern auch eine lebenswerte Nachbarschaft bieten. Dafür richtet sie Feste aus, organisiert Sportangebote und schafft Orte der Begegnung, zum Beispiel Gemüsegärten oder Fußballplätze. In der Soziologie heißt so etwas „dritte Orte“. Damit ist gemeint, dass sie nicht bei jemandem zu Hause oder bei der Arbeit, sondern auf neutralem Boden liegen. Blokland hat in einer ihrer Studien Hinweise darauf gefunden, dass diese dritten Orte für manche Menschen besonders wichtig sind. Dort können sie ungezwungen über ihre Probleme sprechen, wenn sie Familie und Freunde nicht belasten wollen oder niemanden haben, an den sie sich wenden können. Eine gute Nachbarschaft stellt den Menschen also Orte der Begegnung zur Verfügung. Für gemeinsame Aktivitäten empfiehlt Blokland, diese mit einem speziellen Anlass und Regelmäßigkeit zu versehen. Also zum Beispiel monatliches gemeinsames Gärtnern statt einem einmaligen Grillfest. Wer Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenbringt, schafft eine Grundlage für Gespräche.

Für Gina und ihre Freundinnen ist dieser dritte Ort der Vorgarten. Früher trugen die Bewohnerinnen und Bewohner einfach ihre Küchenstühle vor das Haus – bis Ginas Vater Anfang der 1970er Jahre eine Gartenlaube aufstellte. Das 25-jährige Jubiläum des Luruper SAGA-Quartiers wurde hier gefeiert, die Silber- und Rubinhochzeit von Ginas Eltern. 1990 verfolgten hier alle, wie Deutschland Fußball-Weltmeister wurde. Die Hausgemeinschaft hat hier schon viel gelacht und auch zusammen geweint, erzählt Gina.

Mittlerweile wurde die alte Laube ersetzt. Dafür haben einige Parteien aus dem Haus gespart und sich im Jahr 2005 ein Carport gekauft. Das liebevoll eingerichtete Holzhäuschen ist Zentrum der außergewöhnlichen Gemeinschaft. „Wir leben wie eine Familie“, sagt Gitta. Sie wohnt seit 40 Jahren im Quartier und hat hier drei Kinder großgezogen. Für ältere Menschen ist der Kontakt zu Nachbarn besonders wichtig. Sie bewerten ihre Wohnsituation umso besser, je enger der Kontakt zu den Nachbarn ist.

So eingeschworen die Gruppe aus Lurup auch ist – Neue sind herzlich willkommen. Gabi wurde 2016 mit offenen Armen empfangen. Generell aber sei es schwer, mit Zugezogenen Kontakt zu knüpfen, sagt Gina. Als eine junge Frau mit dem Telefon am Ohr an der Laube vorbeiläuft und freundlich, aber nur kurz grüßt, zuckt Gina mit den Schultern: „Die jungen Leute sind halt ständig unterwegs und haben nie Zeit.“

„Seit der Digitalisierung sind Beziehungen eben auch über große Distanz möglich“, sagt Blokland. Menschen pflegen Netzwerke auf der ganzen Welt und sind dadurch unabhängig von den Menschen in ihrer Nähe. „Digitale Kontakte aber können die Funktion von dritten Orten nicht ersetzen“, sagt Blokland. Soziologen beobachten sogar eine wachsende Sehnsucht nach den übersichtlichen Strukturen der nahen Umgebung. Diese „Glokalisierung“ führt dazu, dass Menschen sich auf lokale Angebote und Beziehungen zurückbesinnen.

Nachbarschaft gibt es, seit die Menschen vor zehntausend Jahren sesshaft wurden. Ihre Erscheinungsformen ändern sich stetig: Heute sind Nachbarschaften durchmischter, Lebensmodelle diverser, der Tagesrhythmus vielfältiger als zu Gründungszeiten der SAGA. In jüngerer Vergangenheit hat das Internet das Zusammenleben geändert, die Corona-Pandemie ebenfalls. Wer weiß, was die Zukunft bringt? So viel ist sicher: Ein Lächeln im Treppenhaus wird auch in 100 Jahren nicht aus der Mode gekommen sein.

TEXT: Emily Bartels

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